Der nachfolgende Text ist weder eine Rezension, noch eine Inhaltsangabe, noch eine geschichtliche Zusammenfassung. Er ist mein persönlicher Bericht. Über eine Freundin und Inspirationsquelle. Über Anne Frank.
Der Domino-Effekt
Geschichtsunterricht achte, neunte Klasse. Langweilig, trocken, braucht man später eh nicht. Zumindest habe ich das zu diesem Zeitpunkt bis auf eine Ausnahme so empfunden. Wenn ich später dieser Ausnahme in den Medien begegnete, ihren Namen las oder hörte, setzte in meinem Kopf der Domino-Effekt ein. Diese Ausnahme bildete Anne Frank, hier sinnbildlich für den ersten Stein stehend. Fällt dieser, ist die typische Kettenreaktion nicht aufzuhalten: Man denkt an den zweiten Weltkrieg, das dritte Reich, an Hitler und den Nationalsozialismus. An Antisemitismus mit dem Holocaust. Man denkt an Konzentrationslager.
Dann denkt man nochmal über Anne Frank nach und darüber, dass sie noch so jung war, als sie eines der wichtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts schrieb. Die meisten von euch kennen dieses eine Buch, das ihr Vertraute, Zuflucht und Tagebuch zugleich war. Worüber man häufig nicht nachdenkt, ist die Tatsache, dass Anne Frank nicht nur ein Synonym für eben jene Epoche darstellt. Leute wie ich und vielleicht auch du, fühlen sich ihr auf eine weitere, andere Art verbunden. Und davon erzählt dieser Post.
Hello Herausforderung, it’s me
Es war Ende 2014, ich nahm meinen Jugend- und Fantasy-Buchblog vom Netz, verabschiedete mich auf unbestimmte Zeit aus dieser Szene und war den immer selben Mist, der pausenlos auf den Buchmarkt geworfen wurde, unendlich leid. Meinem Blog also entwachsen, brauchte ich etwas Neues, etwas, dass mich herausforderte. Was ich brauchte, war ein Plan. Auftritt: Anne Frank und ihr Tagebuch.
Durch ein Projekt begann ich im Vorfeld mit Recherchen zum Thema Rassismus und Krieg, selbstredend, dass ich Anne Frank früher oder später begegnen musste. Ich besorgte mir das Buch, das ich zuletzt für den Geschichtsunterricht gelesen hatte und las. Und las. Und las. Und während ich so las, ging irgendwo in meinem Inneren ein Türchen auf. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, wohin mich dieses Buch und dieses ominöse Türchen in den darauffolgenden acht Monaten führen würden.
Von A wie Amsterdam, bis B wie Bergen-Belsen
Es geschahen mehrere Dinge zeitgleich oder kurz hintereinander. Zuerst verlor ich den Verstand. Nicht wirklich, aber metaphorisch, denn nach dem Beenden war ich mir sicher (also sicher wie: sicher sicher, nicht wie: vielleicht sicher) Anne Franks Tagebuch zum ersten Mal in meinem Leben in den Händen zu halten.Versteht mich nicht falsch, eigentlich bin ich nicht verrückt. Doch ich fühlte mich so, wie man sich eben nur nach ersten Malen fühlt. In den darauffolgenden Tagen schlief ich schlecht. Ich aß wenig und verlor mich in Gedanken darüber, wozu Literatur fähig ist, welche Wunder sie in uns vollbringen kann und plötzlich wollte ich mehr. Das Tagebuch als Quelle reichte nicht mehr, das Internet als großer, allwissender Digitalgott war mir zu anonym. Ich wollte mittendrin, statt nur vorm Rechner sein, wollte sehen, was Anne Frank einst sah. So wurde aus der Recherche erst ein Reise - und schließlich ein Herzensprojekt.
Die Fahrt nach Bergen-Belsen plante ich nicht groß. Eigentlich bestand meine Planung darin „Bergen-Belsen Gedenkstätte“ in mein Navi einzutippen. Auf das, was mich dort erwartete, hätte mich nichts vorbereiten können. Und das war gut so. Ähnlich verhielt es sich mit dem „Anne Frank Huis“ in Amsterdam. Wieder daheim brauchte ich eine Weile um zur Ruhe zu kommen. Noch nie zuvor hatte mich die Geschichte einer fremden Person so fasziniert, so aus meiner Komfortzone herausgeholt, so nachhaltig beeindruckt.
Schreiben oder ersticken
Als Anne Frank mit ihrer Familie unerwartet früh in das Versteck des Hinterhauses untertauchen muss, ist das Erste woran sie denkt, ihr Tagebuch. Kitty, wie sie es später nennt, wird zu ihrer engsten Vertrauten. Schreiben hält sie bei Verstand, ist alles was sie ausmacht, Schreiben bedeutet leben. Anne Franks unerschütterliche, verzweifelte, ja beispiellose Liebe zur Literatur in all ihren Formen, berührt mich nicht nur auf eine mir bis dato unbekannte Art, die intensive Auseinandersetzung damit veränderte mich.
Anne Frank wurde dadurch nicht nur zu einem Vorbild, sie wurde meine Lehrerin und Freundin. Ich ziehe meine Hut und verbeuge mich, nicht allein vor einem 13-Jährigen, jüdischen Mädchen in Zeiten des Nationalsozialismus, sondern vor einem 13-Jährigen, jüdischen Mädchen, dem es gelungen ist in den dunkelsten Stunden der Menschheit ein Feuer brennen zu lassen. Eins aus Worten und Papier.
Es rettete ihr nicht das Leben, doch es machte sie unsterblich.
Oben links
Literatur kann viel, wenn man sie lässt. Sie schenkt Hoffnung oder dient als Ventil. Mich selbst macht sie jeden Tag glücklich. Abends heimzukommen und vor dem Schlafen noch ein paar Seiten lesen zu können kommt meiner Definition von Glück schon ziemlich nah. Mir geht es da draußen viel zu häufig um die Unterschiede, als um die Dinge, die wir gemeinsam haben und die uns verbinden. Also fasse ich mich zum Abschluss mal kurz, ihr habt ja auch noch was anderes zu tun: Wenn euch nach einem Buch ist - lest eins. Wenn ihr schreiben wollt - legt los. Oben links ist immer ein guter Anfang.
Grüßerl,
Shanty
PS: Am Donnerstag, den 3.3.2016 erscheint die Neuverfilmung von „Das Tagebuch der Anne Frank“ in den deutschen Kinos. Das Anne-Frank-Haus Museum in Amsterdam bietet im Rahmen der Ausstellung für Jugendliche das Projekt „Lesen & Schreiben mit Anne Frank“ an, indem es vorrangig genau darum geht. Mehr Infos über Anne Frank findet ihr auf den verlinkten Seiten.
Liebe Shanty,
das ist einer der besten und emotionalsten Artikel, die ich seit langem zu Anne Frank gelesen habe. Danke dafür, ich habe es gerade richtig geliebt, deine Worte zu lesen. Du triffst genau den Punkt, findest genau die richtigen Worte. Ein wundervoller Text, der Anne mit Sicherheit gefallen hätte. So viel dazu, dass niemand die Worte eines Schulmädchens lesen wollen würde 😉
Liebe, beeindruckte Grüße
Sandra
Liebe Sandra,
wie bereits erwähnt, hat das böse WordPress deinen wunderschönen Kommentar einfach in den Spam-Ordner verfrachtet, obewohl er ja sowas von un-spamig ist. Ich habe mich nämlich sehr über deine Zielen gefreut! Schön, dass dir der Beitrag so zugesagt hat, das motiviert, weitere solcher zu schreiben.
Viele Grüße zurück,
Shanty
Hallo Shanty,
ich muss echt sagen, dass dein Text grandios geschrieben ist. Mein Kompliment! Und es ist echt spannend, noch ein paar Dinge aus deinem Leben zu erfahren, die ich noch gar nicht so kannte - völlig neue Seiten! 😀
Liebe Grüße,
Jan
Hallo Janni,
ich muss echt sage, dass ich mich über deinen Kommentar freue. Wie immer, weißt du ja 😉 Ja, auch nach…4 Jahren lernt man sich manchmal neu kennen, also Danke!
Drücker,
Shanty
Liebe Shanty,
ich hatte beim Lesen deiner Liebeserklärung an Anne Frank zeitweise richtige Gänsehaut. Unglaublich was Worte schaffen. Was ich an Literatur liebe ist, das sie so vielseitig sein kann, das es Bücher für alle Lebenslagen gibt und aus allen kann man etwas Kleines oder Großes mitnehmen. Durch mein Germanistikstudium hab ich Literatur auf so viele Arten und Weisen kennen gelernt und durch Bücher so viel gelernt, dass ich unglaublich dankbar für dieses Privileg Lesen und Bücher kaufen zu können, bin.
Danke für deinen tollen Beitrag zu Anne Frank. Ich hab das Buch ebenfalls zu Schulzeiten gelesen, hatte aber nie meine eigene Edition. Wird Zeit dass sich das ändert und ich es nochmal lese.
Liebe Grüße,
Susanne
Liebe Susanne,
du hast mir mit deinen wundervollen Zeilen den gestrigen Tag versüßt, vielen Dank dafür! Was du ansprichst, in Bezug auf die Literatur und ihre Fähigkeiten, bin ich völlig bei dir. Es erstaunt mich immer wieder. Jeden Tag, wenn ich ein Buch in die Hand nehme und lese bin ich dankbar dafür und ich finde es schön dies alles mit anderen Literaturliebhabern zu teilen
Viele Grüße,
Shanty